Gemütliche Gratwanderung mit Matterhornblick

17.12.2020

Glitzernder Schnee und fantastische Fernsicht

Ausgedehnt Winterwandern, ohne große Anstrengung – das geht nicht nur im Tal: Der Gratweg von der Moosfluh zur Riederfurka, im UNESCO Welterbe Schweizer Alpen Jungfrau Aletsch, zählt zu den schönsten Höhenwanderwegen der Alpen – und ist im Winter bestens präpariert. Rechts liegt der gigantische Aletschgletscher, links die urigen Bergdörfer der autofreien Aletsch Arena, rundum ein schneebemützter Viertausender neben dem anderen – und geradeaus das majestätische Matterhorn.

Winterwandern in der Aletsch Arena
Winterwandern in der Aletsch Arena © Aletsch Arena

Wenn man auf der Moosfluh aus der Seilbahn steigt, bleibt einem erst mal der Mund offen stehen. So gewaltig ist der Rundblick hier oben auf 2333 Metern – und so blendendweiß verschneit die Welt, dass man ganz schnell die Sonnenbrille aus dem Rucksack kramt. Martin Nellen hat seine schon auf. Er ist hier geboren und aufgewachsen und arbeitet seit 40 Jahren als Bergführer. Und er hat schon Vorarbeit geleistet, ganze 28 Viertausender hat er gezählt, hier oben von der Moosfluh aus. Einen erkennen auch wir: Das Matterhorn schiebt seinen Zackengipfel fast ein bisschen vorlaut in den südlichen Himmel. Fehlen nur noch 27… „Die müsst Ihr jetzt nicht alle finden“, sagt Martin ruhig. Und stellt uns Matterhorns Nachbarn vor, die Mischabelgruppe und das Weißhorn, zeigt uns die italienischen Grenzberge im Südosten. „Und dort drüben“, sagt er und wendet sich nahezu feierlich nach Norden, „dort seht Ihr meinen Freund, den Großen Aletschgletscher“. Wir folgen Martins Blick, unter dem der gigantische Eisstrom ruht, jetzt im Winter zugedeckt von Schnee. Mehr muss der Bergführer gar nicht sprechen – der Gletscher in all seiner Mächtigkeit schweigt laut genug, unweigerlich atmet man ein wenig tiefer die klare, kalte Luft ein, die sich so erfrischend anfühlt, als würden winzige Eiskristalle den ganzen Körper fluten.


„Gehen wir mal ein Stück?“, schlägt Martin vor, dem man seine stille Freude ansieht – Freude über diesen herrlichen Wintertag und über den Eindruck, den seine Walliser Heimat schon jetzt auf die Gäste macht.


Der Winterwanderweg hinüber zur Riederfurka verläuft immer am Grat entlang, bis auf wenige Meter geht es nur bergab. Es ist eine gemütliche Wanderung von etwa zwei Stunden auf einem breiten, präparierten und ausgeschilderten Weg, die man auch mit Kindern oder Großeltern unternehmen kann. Einen Bergführer braucht man dafür nicht, aber einen Martin Nellen hat man einfach gerne dabei – er lässt einen irgendwie tiefer in die Landschaft eintauchen.


Es geht angenehm dahin, leicht hügelig, die gigantische Fernsicht und die strahlende Wintersonne sorgen für so ein beschwingtes und freudiges Gefühl, dass man am liebsten im Wechselschritt hopsen würde, aber das geht mit den dicken Bergschuhen auf Schnee nicht so gut. Links unter uns breitet sich das autofreie Plateau der Aletsch Arena aus mit seinen Skipisten und den drei Bergdörfern Riederalp, Bettmeralp und Fiescheralp, gut tausend Meter tiefer das Tal der jungen Rhone, die die Walliser „Rottu“ nennen; rechts hinter uns liegt der Aletschgletscher in seinem zigtausend Jahre alten Bett. „22 Kilometer ist er lang und bis zu 900 Meter mächtig“, weiß Martin. „Und auch wenn es nicht so aussieht – er ist ständig in Bewegung: Ein Fotoapparat, den man oben am Jungfraujoch verliert, der kommt nach 700 bis 800 Jahren unten an. Und dabei ist er nicht auf der Oberfläche gewandert, sondern in einer Tauchbewegung mehrere hundert Meter tief im Eis gewesen.“


Wir wandern weiter auf dem Gratweg, die Sonne wärmt großzügig das Gesicht, auch wenn immer mal ein kühler Windhauch vom Gletscher heraufweht. So weit oben über dem Eisstrom und dem Tal zu sein, auf Augenhöhe mit all diesen schneebemützten Riesen, fühlt sich fast schon erhaben an, weit weg von der Welt, näher am Himmel als an der Erde.


Nach einer gemächlichen Stunde passieren wir die Hohfluh, und ab und an liegt jetzt in der Luft eine Ahnung von Wald, ein leicht harziger Duft. „Dort unten seht Ihr den Aletschwald“, sagt Martin, und unser Weg neigt sich den uralten Arven und winternackten Lärchen sanft entgegen. Plötzlich fliegt, sein krächzendes „rääggu“ rufend, ein Tannenhäher auf. Martin erklärt, dass diese Vögel mit ihrem schwarz-braunen, weiß getüpfelten Gefieder ja eigentlich Arvenhäher heißen müssten, zeichnen sie doch verantwortlich für den Fortbestand dieses uralten Arvenwaldes. „Sie picken mit ihrem meißelförmigem Schnabel im Herbst die Nüsschen aus den Arvenzapfen und verstecken sie kreuz und quer überall. Im Winter finden sie erstaunliche 80 Prozent davon wieder und tauchen dazu kopfüber in den Schnee. Die ,Arven-Nussini’, die sie nicht mehr finden, gehen auf und werden zu neuen Bäumen.“ Und was für Bäume! Bis zu tausend Jahre alte, knorrige Gestalten haben sich hier im Schutzgebiet versammelt, haben intensiver Sommersonne und eisiger Winterkälte getrotzt und stehen jetzt wie verwunschene Sagengestalten hier im Schnee.


Martin liebt diesen Wald – der im Übrigen einer der ältesten Wälder der Schweiz ist – und hat sich jetzt ein kleines Arvenzweigchen in den Mundwinkel gesteckt – so, wie manche Leute einen Zahnstocher. Später entdecken wir Spuren im Schnee – Fuchs und Hase sind es, die in der Dämmerung den Aletschwald durchstreifen, der Marder mischt sich auch mal unters Volk, erzählt unser Begleiter, nur das Murmeltier hat sich zum Winterschlaf in seine Höhle verkrochen.


Plötzlich taucht jetzt weiter unten wie eine Fata Morgana die sagenhafte Villa Cassel auf. Einem Märchenschloss gleich thront das Gebäude mit seinen Kupfer beschlagenen Türmchen, das heute das Pro Natura Zentrum Aletsch beherbergt, auf der Riederfurka. Sir Ernest Cassel ließ es sich 1902 als Sommerhaus bauen. Der Londoner Bankier hatte sich in den mächtigen Gletscher, den Duft des Arvenwaldes, die fast Ohren betäubende Ruhe und die Frische der Bergluft verliebt. Hätte er damals unsere großartige Winterwanderung auf dem Gratweg unternommen, wäre die Villa Cassel wahrscheinlich nicht nur ein Sommerhaus.


Es wird jetzt kühler, die Tage sind kurz im Winter, und als wir das letzte Stück von der Villa Cassel hinab zur Riederalp steigen, hauchen wir kleine Atemwölkchen in die Luft. Martin Nellen dreht sich um: „Ihr seid mit offenen Augen gegangen, mit offenen Sinnen“, sagt er und lächelt. „Das ist gut.“